«Es ist keine Entspannung in Sicht»

Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung im Kanton Bern ist an ihre Grenzen gestossen. Aus dieser Situation heraus, die medial hohe Wellen warf, wurde unter der Leitung der Kinder- und Jugendpsychiaterin Cornelia Hediger ein multiprofessionelles Netzwerk initiiert. Die ersten konkreten Resultate dieses Engagements sind vielversprechend.

Interview: Manuela Specker, Kommunikationsbeauftragte FMPP

Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung im Kanton Bern ist in den vergangenen Monaten mehrmals in die Schlagzeile geraten – die Situation gilt als dramatisch. Wie präsentiert sie sich heute?

Cornelia Hediger*: Wir haben nach wie vor eine psychiatrisch-psychotherapeutische Unterversorgung mit zu langen Wartezeiten, und niederschwellige, frühzeitige Angebote sind zu wenig bekannt. Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie konnte im Ambulatorium in Bern sogar mehrere Monate lang keine Regelabklärungen mehr durchführen, da die Ressourcen für Notfälle und Kriseninterventionen gebraucht wurden; mittlerweile finden gewisse Regelabklärungen wieder statt. Durch die Unterversorgung werden auch Angehörige, Haus-, Kinderärzt:innen, Lehrpersonen sowie Arbeitgebende zusätzlich belastet. Es ist keine Entspannung in Sicht: Die Tatsache, dass immer mehr Fachleute der Babyboomer-Generation in Pension gehen, verschärft den vorbestehenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkräftemangel. Die Multikrise (Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Klimakrise u.a.) hat die Behandlungsnachfrage insbesondere bei Jugendlichen zusätzlich verstärkt, was ich auch in meinem Praxisalltag erfahre.

Verschiedene Leistungserbringer haben sich zusammengetan, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Sie, Frau Hediger, haben diese Vernetzungsarbeit initiiert. Wie sind Sie vorgegangen, um das «Multiprofessionelle Netzwerk psychische Gesundheit Jugend» ins Leben zu rufen?

Aus meinem Praxisalltag weiss ich, dass Runde Tische oft zu innovativen und koordinierten Lösungen in psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen führen und interessante Sichtweisen sowie neue Optionen aufzeigen können. Ein multiprofessionelles Netzwerk kann ermöglichen, Fachwissen sowie Projektideen zu multiplizieren, bereits bestehende Angebote besser bekannt zu machen und dadurch junge Menschen frühzeitig zu unterstützen. Im November 2021 habe ich begonnen, verschiedene Fachorganisationen anzufragen, und bin auf offene Türen gestossen. Meine Vision ist, dass sich verschiedene Berufsgruppen gemeinsam für die psychische Gesundheit der jungen Generation engagieren. Aufgrund meiner langjährigen Berufserfahrung ist mir bewusst, dass wir nicht nur eine verstärkte Ausbildungsoffensive beim psychiatrisch-psychotherapeutischen Nachwuchs brauchen, sondern dass der Hebel auch bei Gesundheitsförderung, Prävention, Früherkennung und Frühintervention verstärkt angesetzt werden sollte.

Was zeichnet die gegenwärtige multiprofessionelle Vernetzungsarbeit aus?

Die Vernetzung deckt die Bereiche Bildung, Gesundheit, Soziales und Sicherheit ab, dadurch sollen Nahtstellen in der Versorgungskette gefördert werden. Sehr wichtig ist, dass auch selbstständig tätige Ärzt:innen, welche an der Basis arbeiten und wichtige psychiatrisch-psychotherapeutische oder kinder-/hausärztliche Grundversorgung leisten, eingebunden sind. Im gemeinsamen Austausch an den Netzwerktreffen werden Angebote bekannter gemacht, erfolgen fachliche Inputs, und durch Brainstorming in Sounding Boards werden aktuelle Themen gesammelt und verdichtet. Neben verschiedenen Arbeitsgruppen sind bereits weitere Projekte entstanden. Bisher sind über dreissig Fachorganisationen mit über vierzig Schlüsselfachpersonen im Netzwerk des Kantons Bern vertreten: Selbständig tätige Ärzt:innen, Vertreter:innen aus Hochschulen und aus Institutionen sowie von Behörden aus den besagten Bereichen Soziales, Bildung, Gesundheit und Sicherheit.

Was sind für Sie bisher die grössten Erfolge?

Der Fachaustausch zwischen den beiden Berner Gesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (BGKJPP) und für Psychiatrie und Psychotherapie (BGPP) sowie mit anderen Berufsgruppen und Fachorganisationen konnte intensiviert werden. Aus dem „Multiprofessionellen Netzwerk psychische Gesundheit Jugend“ sind bereits weitere Projekte entstanden: darunter „WellGuides“ (https://wellguides.ch), eine Online-Plattform, um Jugendliche und junge Erwachsene über psychische Gesundheit und Angebote zu informieren. Weiter entstanden Fallbesprechungen für Lehrpersonen in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Bern, und auch das Symposium der Berner Gesundheit vom November 2022 zum Thema Versorgungskrise bei Kindern und Jugendlichen wurde von Netzwerkteilnehmenden mitinitiiert. Es ergaben sich zudem Möglichkeiten, Politiker:innen des Berner Grossen Rates bei Motionen zu beraten. Das Fachwissen der hierfür neu gegründeten Arbeitsgruppe Mental Health war bei mehreren dringlichen politischen Vorstössen gefragt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Sowohl die Motion „Versorgungskrise in der Psychiatrie: Massnahmen gegen den Fachkräftemangel“ als auch die Motion „Psychiatrie entlasten: Bestehende Angebote optimieren und Früherkennung stärken“ sind mit grosser Mehrheit angenommen worden. Die Arbeitsgruppe Mental Health erarbeitete übrigens auch ein Faktenblatt Versorgungskrise, welches den Medien und den Grossräten zugestellt wurde. Sehr erfreulich ist auch, dass unsere Arbeit nun anderswo Früchte trägt: Mit dem Kanton Zürich verstärken wir unseren Erfahrungsaustausch.

Wo sehen Sie generell die grössten Herausforderungen für die Zukunft der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, abgesehen von der notwendigen besseren Vernetzung der verschiedenen Unterstützungsangebote?

Der interessante, vielseitige und herausfordernde Beruf der Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie der Fachärzt:innen für Psychiatrie und Psychotherapie ist bei den Gymnasiast:innen und Medizinstudierenden zu wenig bekannt. Fachinputs in Gymnasien und frühzeitige Praktika in psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen bereits während des Medizinstudiums könnten positive Wirkung zeigen und wichtige Einblicke in dieses vielfältige Tätigkeitsfeld ermöglichen. Auch könnten Praxisassistenzprogramme in der Weiterbildung der Assistenzärzt:innen einen Beitrag zur Nachwuchsförderung leisten. Für den Aufbau und die Organisation der oben genannten Fachinputs, Praktika und des Praxisassistenzprogrammes braucht es ein Institut für psychische Gesundheit. Dieses kann zudem die multiprofessionelle Forschung zur psychischen Gesundheit und zur Gesundheitsversorgung vorantreiben. Weiter ist eine verbesserte Finanzierung der anspruchsvollen psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit dringend indiziert. Auch das Prinzip «ambulant vor stationär» sollte finanziell stärker gewichtet werden.

Inwiefern stehen auch Schulen und Arbeitgebende in der Verantwortung?

Wie stärke ich meine psychische Gesundheit? Wo kann ich mir wann Unterstützung holen, und wie sind die Zuweisungswege? Diese Themen sollten in Schulen, Ausbildungen und im beruflichen Alltag noch stärker gewichtet werden. Wenn Gesundheitsförderung, Prävention und Früherkennung/-intervention im Bereich der psychischen Gesundheit noch breiter vermittelt und priorisiert werden, bestehende Angebote bekannter sind und der Versorgungspfad optimiert wird, kann dadurch auch die nachfolgende Versorgungskette längerfristig entlastet werden, was sich wiederum positiv auf direkte wie indirekte Kosten auswirken und psychisches Leid vermindern kann. Es lohnt sich somit auch für die Kantone, längerfristig stärker in Gesundheitsförderung, Prävention, Früherkennung/-intervention sowie Koordination bezüglich psychischer Gesundheit und Angebote zu investieren und die Nachwuchsförderung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkräfte stärker voranzutreiben.

* Cornelia Hediger ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit selbstständiger Praxis im Kanton Bern und hat den Weiterbildungsstudiengang CAS in Gesundheitsförderung und Prävention der Universitäten Basel, Bern, Zürich absolviert. Sie ist Vorstandsmitglied der Bernischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (BGKJPP), Delegierte SGKJPP/FMPP und Mitglied in der Kommission Psychiatrie im Kanton Bern.

Multiprofessionelles Netzwerk psychische Gesundheit Jugend

Hinter der von Cornelia Hediger initiierten Netzwerkarbeit steht die Überzeugung, dass es vermehrt eine koordinierte und verankerte Zusammenarbeit der Bereiche Bildung, Gesundheit, Soziales und Sicherheit braucht, um psychisch belastete Jugendliche und junge Erwachsene besser an passende Angebote heranzuführen, bei Fachkräften Kompetenzen zur psychischen Gesundheit zu stärken sowie Ressourcen und Projektideen zu multiplizieren.

Der Austausch sowie partizipative Einbezug der über dreissig Fachorganisationen des Netzwerks erfolgt in organisierten Netzwerktreffen und in Arbeitsgruppen. Diese Schlüsselfachpersonen haben sich von Dezember 2021 bis Juni 2023 bereits siebenmal in Netzwerktreffen an der Berner Fachhochschule BFH in Bern ausgetauscht, organisiert und durchgeführt vom multiprofessionellen Projektteam, bestehend aus der Co-Projektleitung Regina Jenzer (BFH), Prof. Dr. Frank Wieber (ZHAW Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) und Dr. med. Cornelia Hediger* (BGKJPP), Urs Ammon (VOJA Verband Offene Kinder- und Jugendarbeit Kanton Bern und BeSSA Verein Berner Schulsozialarbeit) sowie Cristina Spagnolo (Berner Gesundheit). Weitere Netzwerktreffen sind geplant.

«Bisher erfolgte die meiste Arbeit ehrenamtlich. Um die Netzwerktreffen zu verankern und längerfristig anbieten zu können, wird finanzielle Unterstützung benötigt - insbesondere auch für die im Netzwerk engagierten Fachpersonen, welche eine selbstständige Tätigkeit ausüben. Spenden und Sponsorenbeiträge sind deshalb jederzeit willkommen», sagt die Initiantin Cornelia Hediger. Interessierte können sich direkt ans Projektteam wenden: Cornelia Hediger, projekte.hediger(at)hin.ch und Regina Jenzer, regina.jenzer(at)bfh.ch

Weitere Informationen: Faktenblatt Netzwerk. Eine Übersicht über Fachorganisationen, die Teil des Netzwerkes sind, ist einsehbar über die Webseite des initiierten Projekts Wellguides.

.hausformat | Webdesign, Typo3, 3D Animation, Video, Game, Print